Tanzen

Anonym – 28.04.2017

März 2017 – Einsatzmeldung: Neurologische Störung mit RTW und NEF – 3 Minuten Anfahrt

Es war ein ziemlich angenehmer Frühlingstag im März, Sonnenschein pur und ein bisher ruhiger Tag. Im Display unseres Systems erschien die Einsatzmeldung: Neurologische Störung – Dora (Name geändert) Alter unbekannt. Was allerdings hier schon ungewöhnlich war: das NEF kommt mit (bei dieser EM normalerweise nur RTW) Bereits im Einsatzmodus gefangen, fuhren mein Kollege (Notfallsanitäter) und ich (Rettungsassistentin) mit Sondersignal zur Einsatzstelle, überlegten, was uns dieses Mal erwartet.

Vor Ort mit EKG und Rucksack bepackt, klingelten wir bei besagtem Namen und stiegen in das 3.OG des Mehrfamilienhauses. Die Tür stand einen Spalt breit auf, wir klopften nochmals und riefen laut „Rettungsdienst“, aus einem Zimmer in der Wohnung rief es bereits aufgeregt „Hier sind wir…“

Im Zimmer sah ich bereits, wie eine Person wild im Bett umher „krampfte“, die Mutter saß am Bettrand und versuchte, ihre Hand zu halten. Das Gesicht konnte ich im ersten Moment nicht erkennen. Die Gedanken kreisten schon „Zugang, Midazolam, Notarzt, …“

„Das ist meine Tochter Dora, sie ist 16. Das geht jetzt schon eine halbe Stunde so, es hört einfach nicht auf.“ Sichtlich angespannt, aber doch gelassen, dafür dass ihre Tochter da gerade krampft.

„Mama ich kann auch selbst erzählen.“ Baff, Schluck, was? Sie redet?

Kurzer Schockmoment, ich ging zu ihr, setzte mich an die Bettkante und hörte zu…

„Das fing alles 2015 mit meiner rechten Hand an. Ich hatte plötzlich keine Kontrolle mehr über sie, lies Dinge fallen, konnte nicht mehr schreiben. Die Hand wackelte, überdehnte sich, streckte sich. Das ging immer weiter, bis der ganze Arm betroffen war. Dann mal nur das Bein. Das schlimme ist, dass dies nur auftritt, wenn ich erschreckt werde. Sämtliche Kliniken untersuchten mich, vom neurologischen Zentren bis Unikliniken, nichts!“

Wieder eine extreme Krampfwelle, ihr Gesicht verzog sich komisch. Es tat sichtlich weh. Als sie so erzählte, fiel mir auf… das sieht gar nicht wie tonisch-klonische Krämpfe aus. Ich wühlte in meinem Kopf, ich kam nicht drauf.

„Sind das so katatonische Phasen?“ Es sah aus wie beim Exorzisten, was man immer so in den Filmen sieht…

„Mehr Veitztänze…“ antwortete mir die Mutter. „Chorea Huntington…“ sagte ich so vor mich hin.
„Genau. Aber ein Gentest wurde bei ihr noch nie gemacht, nicht mal in Erwägung gezogen, weil sie nicht das typische Alter dafür hat. Aber genau so sieht das aus. So extrem war es noch nie.“

Während ich überlegte, sagte mein Kollege: „Wir müssen was machen bis der Notarzt da ist… Midazolam nasal?“ Ich dachte kurz darüber nach, dachte gut, er als NotSan darf ja.

Eine Überwachung war unmöglich anzubauen, sie nahm das Bett in voller Breite durch ihre Veitztänze ein. Ich versuchte ihren Puls zu tasten: „Puls rhythmisch, gut tastbar, bei 100“ (laut ITLS heißt das für mich Blutdruck ist mindestens über 90mmHg systolisch), keine Zyanose, keine Dyspnoe, also Luft geht gut rein. Nach Absprache mit der Mutter gab es 1mg ins rechte und 1mg Midazolam ins linke Nasenloch. Nach 5 Minuten immer noch keine Besserung, sie steckte es unmöglich weg.

Es klingelte, unser Notarzt kam. Eine kurze Übergabe erfolgte durch uns, die Idee mit dem Midazolam fand er super und gab nochmal 2 mg.

Sichtlich ratlos auch seinerseits, erzählte Dora weiter: „Ich habe es mal aus eigenem Interesse mit Marihuana probiert. Danach hat es sofort aufgehört. Vor ein paar Wochen kam auch der Notarzt zu mir in die Schule, da war es schon sehr schlimm mit den Armen. Ich konnte sie echt nicht mehr kontrollieren. Sie gaben mir ein Medikament in den Po, dann hat es auch aufgehört.“

Unser Notarzt gleich zu uns: „Haben wir Diazepam Rektiolen hier?“ „Nein, im Kindermodul, ich hol es dir.“ Sagte mein Kollege.

Gesagt, getan, die Mutter und ich gaben auf Anweisung des Notarzt eine Diazepam rektal. Nach einigen Minuten endlich, es wurde besser, bis nach 10 Minuten alles vorbei war. Jetzt konnte die Überwachung dran, Kreislauf ist stabil, Dora war sichtlich erleichtert und total K.O.

Wir trugen sie mittels Tragetuch zu uns ins Auto. Sichtlich ratlos weiterhin zwecks einer Diagnose, fuhren wir Richtung Kinderklinik.

PS: ich habe bis heute mit der jungen Dame Kontakt, weil es mir einfach keine Ruhe lies. Nach dem Einsatz durchforsteten wir sämtliche Foren im Internet und Bücher und stießen auf die Krankheit Chorea Minor. Alle Symptome, die sie beschrieb, hatte sie am Anfang so gehabt. Die Streptokokken-Infektion war nicht ausschließbar, sie klagte oft über starke Halsschmerzen vor Beginn der ersten Symptome. Am Anfang untersuchte man sie auf diese Krankheit, man verwarf aber zeitnah den Gedanken. Leider. Sie hat bis heute keine brauchbare Diagnose.

2 Antworten auf „Tanzen

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  1. Tolle Story, sehr interessant geschrieben!
    Und echt Wahnsinn, dass sie bis jetzt immer noch nicht weiß, was genau sie da eigentlich hat. *kopfschüttel*

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